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Gerettet von der Dea ex machina der Restitution

So bewährt sich Erinnerung: Flix’ Marsupilami-Comic „Das Humboldt-Tier“ verbindet Schoa-Gedenken und dekoloniales Bewusstsein.

Comicgestaltung kann sprechend sein: Die einzigen judenfeindlichen Kommentare der Passanten in seinem Berlin des Jahres 1931 setzt Flix in winzige Typographie. [Bild: Flixm| Dupuism | Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2022]

Multidirektionales Er­innern ist schwer. Wie es aussehen kann, zeigt Flix’ jüngster Comic „Das Humboldt-Tier“. Wie schon 2018 in seinem Band „Spirou in Berlin“ – dort ging es um die letzten Monate der DDR – nutzt Flix ausgerechnet den frankobelgischen Figurenkosmos von André Franquin, um deutsche Geschichte neu zu erzählen. Der Zeitpunkt ist günstig.


Denn es gibt Streit in Deutschland, Erinnerungsstreit. Die Auseinander­setzungen um Antisemitismus auf der Documenta15 hat es gezeigt, und das Berliner Humboldt-Forum wird die unheimliche Ähnlichkeit zu dem potemkinschen Preußenbeton nicht los, in den seine Bauherren es gegossen haben. Der imaginäre Graben zwischen Schoa-Gedenken und dekolonialem Bewusstsein ist in Deutschland tiefer als je zuvor. Einen Grund dafür hat Michael Rothberg schon 2009 in seinem Buch „Multidirektionale Erinnerung – Holocaustgedenken im Zeitalter der De­kolonisierung“ als „kompetitive Erinnerung“ beschrieben. Nimmt man an, dass die dem Erinnern zur Verfügung stehenden Ressourcen knapp sind und das öffentliche Gedenken ein Nullsummenspiel ist, dann „verhindert“, so Rothberg, die Erinnerung an den Holocaust die an andere historische Verbrechen. Umgekehrt würde „die Er­innerung an Sklaverei oder Kolonialismus die Er­innerung an den Holocaust“ in „der öffentlichen Sphäre auslöschen“. Dass es allerdings auch anders geht, zeige „multidirektionales“ Erinnern. Rothberg zufolge setzt das nicht auf Konkurrenz, sondern auf Dialog.


Der Comic von Flix beginnt mit einem Bild­zitat von Alexander von Humboldts berühmter Darstellung des Chimborazo in Ecuador. Dort sammelt Humboldt mit Aimé Bonpland zukünftige Museums­objekte, darunter nicht nur ein Exemplar der Marsipulamis, einer von Franquin erfundenen Tierart, sondern auch eine aus einer Grabhöhle entwendete Mumie. Aus deren Mund strömt die gesamte Geschichte hindurch ein grünes animalisches Fluidum. Es verweist noch im winterlich-grauen Berlin, wo die Mumie schließlich landet, auf das Regenwaldgrün an den Hängen des Chimborazo: also auf den Kontext, dem die Mumie entrissen wurde. Vor allem aber ähnelt das grüne Fluidum denjenigen Atem- und Sprechblasen, die in Comics eigentlich lebendigen Figuren vorbehalten sind – im Italienischen heißen sie „fumetti“ (Rauchwölkchen). Die Mumie ist also kein totes Objekt, sondern ein beseeltes, ein „spirituelles“ Wesen. Als sie gegen Ende der Geschichte zu Staub zerfällt, öffnet das Marsupilami ein Fenster, sodass die Überreste vom Wind nach draußen getragen werden und dort verwehen. Wenigstens so entkommt die Mumie dem Museum.


Einmal ist da das Verbrechen der Kolonisatoren ...

Unzweideutig lebendig ist ein Jaguarbaby, das Humboldt findet und, wie der Comic sehr klar macht, mit Gewalt dessen Eltern raubt. Es ist an liebens­würdiger Großpfotigkeit und rührendem Kindchenschema kaum zu überbieten. Einen „verdammt niedlichen Fratz“ nennt Humboldt das Kätzchen und teilt ihm gleich darauf mit: „Ich verspreche dir, ich werde dir ganz zärtlich das Genick brechen und dann wirst du das hübscheste Stück meiner gesamten Sammlung.“ Man darf diese ausgesprochen brutale Wendung nicht überlesen. Deutlicher lässt sich die Museumslogik der Repräsentation als Mortifikation nicht ausdrücken.

Siehste, so geht es: Flix zeigt, wie man Geschichte und Geschichten als Comic erzählt. Und er hält das Berlin des Jahres 1931 ganz in seinem persönlichen Stil wie hier die Goldelse auf der Siegessäule. : [Bild: Flixm | Dupuis | Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2022]

Zeitsprung ins Jahr 1931: Mumie und Jaguarbaby, jetzt ausgestopft und auf ein Brett montiert, finden sich in einer Kiste im Berliner Museum für Naturkunde. Daneben liegt das Marsupilami, ein menschenähnliches Wesen mit schwarzgeflecktem gelbem Fell und acht Meter langem Schwanz. Es erwacht auf magische Weise wieder zum Leben, flieht aus dem Museum und freundet sich mit der siebenjährigen Mimmi Löwenstein an, die in prekären Verhältnissen mit ihrer alleinerziehenden Mutter lebt. Wie ihr Familienname, eine Menora auf dem Küchentisch und ein an Mimmis Fenstergriff hängender Davidstern aus Stroh andeuten, sind die Löwensteins jüdisch.


... und dann der deutsche Antisemitismus

Mimmi und das Marsupilami werden Zeugen des aufkommenden national­sozialistischen Terrors. Eine Szene zeigt drei Männer in Uniform, die an die Uniformen der Hitlerjugend erinnern. Sie bedrohen einen Schneider. Im Hintergrund liest man im Schaufenster „Schneiderei Spiegelmann“ – nicht der erste Hinweis auf Art Spiegelman und seinen epochalen Schoa-Comic „Maus“. Am Arm tragen die Männer rote Binden mit einem weißen Kreis, also sozusagen Hakenkreuzbinden ohne Hakenkreuz. Die finden sich schon in der deutschen Version von Jason Lutes’ „Berlin“, einem Comic, der vom Aufstieg des deutschen Nationalsozialismus erzählt. Bei Flix geschieht das, offenbar programmatisch, nur ganz leise. So sind die einzigen ausdrücklich antisemitischen – und auf Mimmi bezogenen – Sätze des gesamten Comics in winziger, kaum mit bloßem Auge les­barer Schriftgröße gehalten.


Buchstäblich in Berührung mit einem Hakenkreuz kommen Mimmi und das Marsupilami, als sie hinter der Gebäudebeschriftung „Völkischer Beobachter“ herlaufen. Dabei sind das vorausgehende und das folgende Panel besonders bemerkenswert. Das eine zeigt, ganz grau in grau, Ratten in der Kanalisation. Der Blick fällt durch vier waagerecht verlaufende Stacheldrähte im nahen Vordergrund – Assoziationen an ein Konzentrationslager und an Spiegelmans „Maus“ stellen sich ein. Im anderen Panel ist hinter zwei verkrüppelten Kriegsveteranen ein Schild mit der Aufschrift „Wählt NSDAP!“ zu erkennen. Man kann das als Verweis auf den rechts im Hintergrund zu lesenden Namen „Hertie“ lesen, das heißt auf ein später von den Nationalsozialisten „arisiertes“, also enteignetes Kaufhaus. Wie ein angeschnittenes U-Bahn-Schild und die Straßenbahnlinie 12 erkennen lassen, befinden sich Mimmi und das Marsupilami jetzt am Oranienburger Platz. Gleich um die Ecke liegt heute noch die Neue Synagoge, die in der Pogromnacht vom November 1938 zwar in Brand gesetzt, aber dann durch die Intervention des Polizeibeamten Wilhelm Krützfeld gelöscht und so vor der Zerstörung bewahrt wurde. Zum Hakenkreuz kann man sich so verhalten oder auch anders.

Das Cover zum Comic „Das Humboldt-Tier“ von Flix [Bild: Carlsen Verlag]

Ausweg aus der Einnerungskonkurrenz

Einem Tierpräparator gelingt es, das Marsupilami zu fangen. Der hinzugerufene Museumsdirektor kommentiert es – ähnlich wie Humboldt das Jaguarbaby – mit den Worten „Putzig!“ und „Ich liebe es!“. Auch dem Marsupilami soll es ans Fell gehen, um „eine ganze Urwaldausstellung drum herum“ zu „bauen“. Um sich selbst zu repräsentieren, muss die Kreatur erst getötet werden.


Das Marsupilami flieht in einer vir­tuos inszenierten Verfolgungsjagd über ein Brachiosaurus-Skelett hinweg. Als ihm die Kräfte schwinden, folgt eine Traumszene, in der die Viktoria von der Berliner Siegessäule steigt, das Marsupilami zärtlich in die Arme nimmt und mit ihm davonschwebt: Dea ex machina der Restitution. Das Marsupilami ge­langt zurück in den südamerikanischen Urwald, die Geschichte von der Ent­führung des Humboldt-Tiers ist auf märchenhafte Weise korrigiert. Auf dem Tempelhofer Rollfeld aber steht Mimmi und weint. Das Szenario mit dem Close-up eines Flugzeugpropellers vor verschneitem Hintergrund zitiert Hergés Comic „Tim in Tibet“, eine andere koloniale Ent­führungs- und Rettungsgeschichte. Im Schnee findet Mimmi eine zitternde weiße Katze, die Züge des Jaguarbabys und der Kaninchen vereint. Statt „Huba“ wie das Marsupilami sagt sie „Mau“. Mimmi nimmt sie mit nach Hause.


Die Katze verkörpert, wovon der Comic „Das Humboldt-Tier“ erzählt: die Möglichkeit einer multidirektionalen Erinnerung im Sinne Rothbergs, die die Erinnerungskonkurrenz hinter sich lässt.

 

(c) 2022, Frankfurter Allgemeine

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/das-humboldt-tier-ein-marsupilami-comic-von-flix-18410390.html

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